Geschichten aus dem Handwerk

Das Handwerk ist vielfältig, bunt, herausfordernd und erfüllend. Und es steckt voller spannender Geschichten!

Wir haben Ihnen hier eine Sammlung von Hintergrundberichten zusammengestellt, die mehr als den reinen Nachrichtenwert enthalten. Sie handeln von ungewöhnlichen Orten, unerwarteten Ideen bei der Suche nach Lösungen für ganz alltägliche Probleme und vor allem von Menschen, die voller Leidenschaft für ihr Handwerk sind.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

Tischlerei in Seecontainern


Tischlerei in Seecontainern

Firma Grimme
FLÄCHENNOT: Die Grimme Architektur & Möbelwerkstätten haben sich selbst ihren Standort am Münsteraner Stadthafen geschaffen

Da, wo in Münster Binnenschiffe vorbeiziehen, wo ein aufgegebenes Holzgroßlager an ein früheres Industriegebiet am Hafen erinnert, ganz nah an der Kante des Dortmund-Ems-Kanals, hat Johannes Grimme mit seiner Frau Sabine in 16 ehemaligen Schiffscontainern eine eigene Tischlerei errichtet. Der besondere Reiz des Ortes ist für den 37 Jahre alten Jungunternehmer klar: „Er liegt zentral in Münster, zugleich kann man hier so richtig Krach machen und in Pausen oder mit Kunden in Ruhe auf der Terrasse am Wasser sitzen.“

„Die Grimmes“ lernten sich während der Tischlerlehre von Johannes Grimme im Münsterland kennen. Nach seiner Meisterprüfung und einem gemeinsamen Architekturstudium mit ersten Schritten in der Selbstständigkeit sowie einem mehrmonatigen Stipendium in New York war das gemeinsame Ziel: zusammen wirtschaftlich selbstständig sein, mit Bodenständigkeit und Leidenschaft.

Das Paar konzentrierte sich auf den Möbelbau und entschied sich für Münster. Eineinhalb Jahre wurde nach einer Fläche oder Immobilie für den künftigen Betrieb gesucht. Die Vorstellung war ein leerstehendes Fabrikgebäude. „Aber wir haben keinen Standort in der Stadt gefunden“, so Grimme Da entstand das Konzept: fremdes Grundstück und eigenes Gebäude aus Seecontainern.

Sie entdeckten die Brachfläche am Kanal. Ein Pachtvertrag kam zustande. Sechsmal sprachen Johannes und Sabine Grimme im Hamburger Hafen mit Containerhändlern und planten ihre Werkstatt aus 16 gebrauchten Stahlbehältern im Detail exakt durch, bevor sie die „40 Fuß High Cubes“ kauften, jeder davon 2,9 Meter hoch, 2,438 Meter breit und 12,192 Meter lang.
„Da gibt es ein Riesenlager und man muss die Container nehmen, die der Kran gerade herausholt.“ Wenn man Glück hat, war der Container vorher in Europa im Einsatz, wo er mit Kränen bewegt wird. Am mitgenommensten sind die Container, die in Afrika waren, wo sie auch mit Baggern über den Boden geschrabbt werden. An den Wänden eines von Grimme zur Werkstatt verbauten Containers befanden sich beispielsweise Reifenspuren. Ein weiterer Container war zuvor in Pakistan, mit Klebestreifen markierte Abschnitte zeugen davon. Jeder Container hat seine eigene Historie.

Der schon zugewachsene Strom- und Wasseranschluss auf dem Grundstück der verlassenen Lagerhallen musste freigelegt werden. Das Betonfundament wurde selbst gegossen und innerhalb von zwei Tagen alle Container zum Hexaeder daraufgesetzt – zweimal vier Behälter nebeneinander, acht weitere als erstes Obergeschoss. „Wir haben fast alles selber gemacht, außer Sanitär- und Elektroleistungen, Tag und Nacht gearbeitet, bis zur Erschöpfung“, sprüht Grimme und erinnert sich an seine „intensivste handwerkliche Erfahrung überhaupt“: Das Ausschneiden von 1,5 Meter breiten Wandteilen aus den Containern mit einem Plasmaschneider hat in den Wänden „geknallt und geknackt“.  Die herausgetrennten Teile – insgesamt 6,5 Tonnen – dienen als Veranda und Balkonträger. Die Ost-West-Fronten wurden großflächig verglast; so scheint viel Licht herein.

Mit holzverkleideter Dämmung an Boden, Decken und Wänden bietet jeder einzelne Container 28 Quadratmeter Raum. Die Flächen sind zu einem Ganzen verschmolzen. Die gesamte Bauzeit betrug ein drei Viertel Jahr, bereits im halbfertigen Unternehmenssitz nahmen die „Grimme Architektur & Möbelwerkstätten“ 2015 die Produktion auf. Die ersten Kunden, Besitzer eines Münsteraner Cafés, wurden empfangen, als noch an den Containern geschraubt wurde. Sie bekamen den Auftrag zur Inneneinrichtung. Grimme: „Das hat Mut gemacht.“ Der Unternehmer setzt mit hohem handwerklichen Anspruch erfolgreich auf Mund-zu-Mund-Werbung und die Internetpräsenz.

Jedes Gebäudeteil ist so konzipiert, dass die Werkstatt auch innerhalb von zwei Wochen abmontiert und anderswo aufgebaut werden könnte. Alternativ wäre sie durch zusätzliche Container erweiterbar. „Unser Platz reicht nie, aber für den Start war es perfekt.“

Der gesamte, nach und nach erweiterte Gebrauchtmaschinenpark passt zwar schon nicht mehr hinein. In der Riesenhalle des Nachbarn lagern jedoch die größeren Maschinen zwischen
und lassen sich bei Bedarf in der Werkstatt austauschen.  

Das Interesse von Privatleuten und Unternehmen am Nachbau der Containerwerkstatt ist riesig.  Die Weitergabe des Know-hows habe sich fast schon zu einem eigenen Geschäftsfeld entwickelt, berichtet Grimme. Für ihn ist klar: „Hier in Hafennähe, wo man die Schiffe vorbeifahren sieht, passen Seecontainer. Diese Architektur gehört aber nicht überall hin.“

johannesgrimme.de

Foto: HWK/Peter Leßmann

 

Friseurhandwerk schenkt Bedürftigen Freude


Friseurhandwerk schenkt Bedürftigen Freude

Friseursalon Ehrlich
MENSCHLICHKEIT: „Zur Nachahmung empfohlen“, mit diesem Etikett versieht Obermeisterin Rosemarie Ehrlich ein Nachhaltigkeitsprojekt der Friseur-Innung Münster

Ortstermin im Treffpunkt an der Clemenskirche: Die katholische Unternehmensgruppe Alexianer mit Sitz Münster unterhält hier spendenfinanziert einen Zufluchtsort mit warmen Mahlzeiten und Unterstützung für Menschen in sozialen Notlagen. An jedem letzten Montag eines Monats sind die Friseure da – verlässlich, ehrenamtlich, in der Freizeit, mit wechselnder Besetzung.
Geöffnet ist von 14 bis 16 Uhr: Mit einfachen Mitteln wird der Raum in einen Salon mit Friseuratmosphäre verwandelt. Auf Tischen stehen Spiegel, das ergibt vier Arbeitsplätze. Jeder Friseur hat sein eigenes Werkzeug dabei. Die Kunden – meist Wohnungslose, aber auch Hartz-IV-Empfänger und verarmte Rentner – haben sich im Idealfall zwei Wochen vorher bei Treffpunktleiter Matthias Eichbauer angemeldet. Sie nehmen im Wartebereich Platz. Zeitschriften sind ausgelegt. Wer an der Reihe ist, kann Frisurwünsche äußern oder sich beraten lassen und bekommt schließlich mit dem gleichen Respekt und der Höflichkeit wie gegenüber zahlenden Kunden einen individuellen Trockenschnitt.

Heute sind Maik Rosenbaum und Zehra Kocak im Einsatz. Für ihn ist es das erste Mal, für sie das zweite Mal. Beide sind Mitarbeiter von Münsteraner Salons, montags haben sie frei. „Ich wollte eigentlich schon immer so etwas machen, aber keine Leute auf der Straße ansprechen“, erzählt Rosenbaum, während er einem Herrn um die Sechzig einen akuraten Mecki schneidet. Deshalb habe er sich im Doodle-Kalender der Innung für heute eingetragen. „Einfach nur so.“ Der Igelschnittträger strahlt für einen Moment, nachdem die Konturen wie genaue Striche gezogen sind. Als Nächstes ist eine Mittfünfzigerin dran. Wie beim letzten Mal hätte sie gern wieder einen Kurzhaarschnitt. Vom Hart-VI-Satz könne sie sich keinen regelmäßigen Friseurbesuch leisten. Sie findet den Freiwilligeneinsatz toll und freut sich wenig später über die gepflegte Frisur.

Kocak macht der Termin Spaß. Sie legt einer verunsichert wirkenden Jugendlichen mit blond-grünen, wild gewachsenen Haaren den Umhang um und macht Vorschläge für ein neues Styling. Schnell scheint die junge Frau offener zu werden, die Anregungen des Profis findet sie gut. Die Fachkräfte finden rasch einen Draht zu den Kunden.

„Die gegenseitige Wertschätzung, die Verlässlichkeit des Dienstes, der persönliche Austausch, die Dankbarkeit für die feste Struktur, durch die wir mit unserem Handwerk Freude schenken“, das macht für Ehrlich den Reiz dieses Nachhaltigkeitsprojektes aus. „Man fragt die Hilfsbedürftigen natürlich nicht, wie sie in ihre Situation gekommen sind. Aber letztens habe ich hier einem Mann die Haare geschnitten, den ich öfters schon draußen habe sitzen sehen. Er hat ein bisschen von seiner Geschichte erzählt.“ So bekomme man Einblicke in die Welt von Menschen, denen es nicht so gut gehe. Allein schon durch die Berührung entstehe Nähe, die Menschen öffne. Empathie spiele in ihrem Beruf generell eine wichtige Rolle – und ganz besonders bei dieser Aktion, ist Ehrlichs Erfahrung.

Entstanden ist das Innungsprojekt auf Anfrage der Alexianer, die sich mit der Idee an die Kreishandwerkerschaft Münster wandten. Hauptgeschäftsführer Jan-Hendrik Schade sagte sofort seine Unterstützung begeistert zu, und der Funke sprang auf die Innungsmitglieder und deren Mitarbeiter über. Sie verpflichteten sich im Februar, den Service kontinuierlich zu übernehmen. Die lokalen Medien berichteten nach einer erfolgreichen Testphase.

Die neueste Idee: Neubauer teilt in Kooperation mit der Innung bei besonderen Anlässen Gutscheine für einen Friseurbesuch in ausgewählten Betrieben aus, etwa vor einem Vorstellungsgespräch.

Foto: HWK/Teamfoto Marquardt
 

Tandems und Trikes statt Kohle und Koks


Tandems und Trikes statt Kohle und Koks

Marec Hase
PREISGEKRÖNT: Spezialräder an einem außergewöhnlichen Ort – bei Hase Bikes ist alles irgendwie besonders, auch der Erfolg

Ende Juni 1979 förderten Bergleute zum letzten Mal in der mehr als 70-jährigen Geschichte der Zeche Waltrop in harter, gefährlicher Arbeit unter Tage Steinkohle. Was hätten die Kumpel damals wohl gesagt, wenn sie einen Zeitsprung über 40 Jahre in die Zukunft hätten machen und einen Blick in die backsteinernen Werkhallen im Gewerbepark der Ruhrgebietsstadt des Jahres 2019 hätten werfen können?

Sie sähen einen Ort, der für Energiewende, Beweglichkeit und Weltoffenheit steht; sie erblickten Menschen, deren technische, gestalterische und kaufmännische Arbeit sich um das Fahren von Tandems und Trikes im Freien dreht. In das Flair der Jahrhundertwende und Industriekultur mischten sich im Laufe der Jahrzehnte das Werkstattambiente eines mittelständischen Familienunternehmens, das Handwerk und Handel vereint: Hase Bikes.

„Wir gehen am besten zuerst in die Konstruktionsabteilung“, lädt Marec Hase ein. Fahrräder neu denken, das leitet den 48-Jahre alten Unternehmer seit Schulzeiten. Der Gewinner des Landeswettbewerbs „Jugend forscht“ von 1989 (1. Platz für Tandemdreirad) und 1990 (2. Platz für faltbares Liegerad) hat mit seinen Ideen ein Unternehmen gegründet, das Furore macht. So wuchs Hase Bikes von einer Garagenwerkstatt seit 1994 zu einem Betrieb heran, zu dem Händler aus allen Kontinenten anreisen und dessen Produkte mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurden, unter anderem drei Red Dot Design Awards.

Hase, der sich als Feinmechaniker erst selbstständig machte und dann ein Maschinenbaustudium aufnahm und abschloss, ist nach wie vor auf der Suche nach neuen Lösungen der Fortbewegung. Der Chef, Ehefrau Kirsten Hase als Marketingleiterin und 60 fahrradbegeisterte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eröffnen Mobilitätserlebnisse für alle – Normalos, Weltreisende, Menschen mit Handicap, Klimaschützer, Naturliebhaber, Städter, Tandemfans, Trikefreunde und Kids.

Charakteristisch für die Liegedreiräder sind zwei Hinterräder und ein Vorderrad. Diese verhindern das Kippen des Fahrzeugs. Geradezu schon als Klassiker könnte man das Modell „Kettwiesel“ bezeichnen, das auch die Basis für Reha-Räder, Handbikes, Sportvarianten und Offroad-Fahrzeuge bildet. 

Die zweirädrigen Tandems „Pino“ haben Höhenunterschiede als Markenzeichen; der hintere Fahrer fährt wie auf einem „normalen“ Fahrrad, der vordere sitzt wie auf einem Liegerad. Beide können freie Sicht voraus genießen. Das System ist erweiterbar durch ein angehängtes Kindertrike und eine Lastentasche vorn. Mit dem Pino radelten Paare bereits bis Tibet oder durchquerten Amerika vom Norden bis zum Süden.

Aus Anfragen und Anregungen von Kunden, die teils mit körperlichen, teils mit geistigen Einschränkungen leben, entstehen erst Prototypen und dann oftmals neue Produkte. „Durch Mobilisierung erhalten viele Kunden ein neues Stück Freiheit. Das macht uns glücklich“, unterstreicht Hase seine Motivation. Sonderanfertigungen werden an der Drehmaschine ebenso entwickelt wie mit CAD-Software und 3D-Drucker. Eine der aktuellen Innovationen ist eine selbstauslösende Bremse für Menschen mit Spasmen. Im Falle einer ruckartigen Bewegung bringt ein um die Arme gebundener Gurt das Rad zum Stehen. Weitere Entwicklungspotenziale ergeben sich aus Elektroantrieben.  

Seit 19 Jahren ist der Betrieb in der denkmalgeschützten, sorgfältig sanierten Werkhalle mit Jugendstilfassade und Sprossenfenstern beheimatet, das immer noch die Historie der Zeche samt Kokerei atmet. Hier bauen die Zweiradmechaniker jährlich rund 2.500 Räder an mehreren Stationen á acht Rädern. An einem Rad wird zwei Tage montiert. Zahlreiche Abläufe sind digitalisiert.

Im nun erreichten 25. Jubiläumsjahr nehmen Pläne zur erneuten Betriebserweiterung durch eine vierte Halle Fahrt auf. Das Lager im vorhandenen benachbarten zweiten Neubau wird wieder zu klein. Von hier aus verschicken die Lageristen neben Fahrrädern auch Zubehör und Ersatzteile um den Globus. 

„80 Prozent der Belegschaft haben wir selber ausgebildet“, unterstreicht Hase mit einem Anflug von Stolz. Neben der Ausbildung von Zweiradmechatronikern bietet er in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Bochum auch eine kooperative Ingenieursausbildung an. Die Betriebszugehörigkeiten sind lang. Dafür tut Ehepaar Hase Einiges: flexible Arbeitszeiten, konkurrenzfähige Gehälter, eine positive Atmosphäre beispielsweise durch Homeoffice, freie Getränke und Obst, Fortbildungen, Sportangebote und – natürlich – ein Jobrad.
„Wir gehen in mein Büro“, weist Marec Hase den Weg. Auch hier eine Überraschung: In dem ebenso zentral wie ruhig gelegenen Raum stehen nicht nur Büromöbel und ein Konferenztisch, sondern auch ein Flügel. Der dicke Stapel Notenblätter auf dem Brett zeigt, dass das Instrument des Öfteren gespielt wird. So hat auch Musik das Rattern der Fördertürme abgelöst.

Foto: Hase Bikes